Berlin-Lichtenrade, 4.7.2010

Unter dem Titel „Direkt vor der Haustür, NS-Zwangsarbeit in Lichtenrade“ fand mit Startpunkt am S-Bahnhof Lichtenrade eine geführte Fahrradtour der Geschichtswerkstatt Lichtenrade in Kooperation mit dem Heimatmuseum Tempelhof-Schöneberg statt.
Seit über 25 Jahren beschäftigt sich eine Gruppe ehemaliger Jugendlicher der evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Lichtenrade mit dem Nationalsozialismus im Ortsteil Lichtenrade. Ruth Zantow berichtet von der Motivation der Gruppe, sich anlässlich einer Gedenkstättenfahrt nach Polen auch mit der unmittelbaren Nachbarschaft zu beschäftigen. Dabei erfuhren sie, dass es in Lichtenrade ein Außenlager vom KZ-Sachsenhausen gab. Dieser Ort sollte dann im weiteren Verlauf der Radtour noch angefahren werden.
„Wir machen das alles als ehrenamtliche Arbeit am Beispiel Lichtenrade, aber nicht darum, weil Lichtenrade so einzigartig ist, sondern weil Lichtenrade so gewöhnlich ist“ betont Ruth Zastrow. Im Rahmen ihrer Arbeit, zunächst als freie Gruppe, arbeitet die Initiative nun im Rahmen der Geschichtswerkstatt Berlin e.V. und hat schon viele Zeitzeugen gesprochen.
„Zu jener Zeit war Berlin mit Holz-Baracken nur so überzogen. Groß-Berlin bildete ein einziges Lager“ zitiert Thomas Quilitzsch einen französischen Schriftsteller und ehemaligen Zwangsarbeiters. „Arbeitslager waren in Berlin also allgegenwärtig und mittendrin“ erläutert Quilitzsch.
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Bei hochsommerlichem Wetter ging es dann mit einer circa 15 köpfigen Gruppe vom S-Bahnhof Lichtenrade in die Steinstraße zur Wohnbebauung der Alexandra-Stiftung, gegenüber vom Rewe-Markt. An dieser Stelle war, vermutlich ab 1942, ein Zwangsarbeitslager der Reichspostdirektion: „Es erinnert jetzt nichts mehr daran“ berichtet Thomas Quilitzsch. Im Lager in der Steinstraße sollen 1.131 Menschen gelebt haben 1942/1943). Das Lager wurde dann am 29.12.1943 bombardiert. In Lichtenrade gab es vier Zwangsarbeitslager und das KZ-Außenlager von Sachsenhausen, nicht irgendwo, sondern mitten im Ort. Das nächste Lager grenzte direkt daran an (ehemalige Roonstraße, jetzige Mellener Straße). Thomas Quilitzsch zeigte Fotos von der Familie der Fleischerei Schrap, wo idyllisches Landleben in Lichtenrade direkt an der Grenze zum Lager „Tür an Tür“ abgelichtet wurde und die „normale Absurdität“ verdeutlicht. Nach dem Krieg war das Lager in der Steinstraße Flüchtlingslager.
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Josef Kroupa (mit freundlicher Genehmigung der Geschichtswerkstatt Lichtenrade)
Ein tschechischer Zwangsarbeiter hat an seine Schwester und Mutter Aquarelle geschickt. So kann man noch einen kleinen Eindruck von der Lagersituation bekommen, weil es kaum Fotos aus dieser Zeit gibt.
Mit den Zwangsarbeitern wurde der Arbeitskräftemangel in den Kriegszeiten ausgeglichen. Es gab in der überwiegenden Zahl Zivilarbeiter, auch Kriegsgefangene, jüdische KZ-Häftlinge und Sinti und Roma. Zwangsarbeit mussten Männer, Frauen und Kinder leisten. Es wurde unterschieden in sogenannte „Westarbeiter“ (zum Beispiel Italiener, Belgier, Franzosen und Holländer), sogenannte „Ostarbeiter“ (Russen und Ukrainer) und als eigenständige Gruppe die besonders diskriminierten Polen. Die Zwangsarbeitergruppen wurden unterschiedlich behandelt, teilweise lebten sie auch bei Handwerkern und in Betrieben. Zwangsarbeit sahen viele Menschen in der Bevölkerung nicht als Unrecht an. Thomas Quilitzsch geht nach den Unterlagen von mindestens 4.000 bis 4.500 Zwangsarbeitern in Lichtenrade aus. Im Vergleich dazu lebten in Lichtenrade circa 15.000 Einwohner.
Die Arbeitslager wurden nicht besonders bewacht, teilweise konnte sich einige Gruppen im Rahmen ihrer Zwangsrekrutierung „frei“ bewegen. So fuhren die Zwangsarbeiter teilweise in die Stadt nach Berlin, andere arbeiteten aber auch in Lichtenrade. Die Zwangsarbeiter wurden überall als Arbeitskräfte eingesetzt.
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heutige Wohnbebauung Wolziger Zeile / Ecke Hilbertstraße
Dann wurde per Rad der ehemalige Standort des Waldrestaurants Rohrmann an der Wolziger Zeile /Ecke Hilbertstraße angefahren. Das war eines der mindestens vier Saal-Gaststätten in Lichtenrade. Saalgaststätten wurden auch zur Unterbringung von Zwangsarbeitern genutzt. In der Hilbertstraße wurde die Gaststätte als Lager von Siemens & Halske genutzt. Nach der Machtergreifung war hier das SA-Sturmlokal und es fanden viele Veranstaltungen statt. Der Saal hatte Platz für 500 Personen. Am 13.7.1932 gab es einen sogenannten „Deutschen Abend“, wo auch Goebbels in Lichtenrade eine Rede hielt: „Es gibt in Deutschland zukünftig nur zwei Parteien. Die Nationalsozialistische Arbeiterpartei und diejenigen, die gegen uns sind.“ Die Lichtenrader Zeitung berichtete in der Zeit über das große Spektakel mit Gesang und Ansprachen: „Bis zum Dorfteich war es zu hören.“ Ab März 1933 wurden hier Regimegegner eingesperrt und gefoltert.
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Aufzeichnungen und Pläne der Baracken an der heutigen Barnetstraße
An der Barnetstraße (ehemalige Marienfelder Straße) war das so genannte „Polenlager“ der Deutschen Reichsbahn, dass im Gegensatz zu anderen Zwangslagern auch eingezäunt und bewacht war. Zu diesem Lager konnte die Geschichtswerkstatt im Landesarchiv umfängliche Unterlagen einsehen. Es gab erhebliche Ausgrenzungen, Regeln, Bestrafungen und Kennzeichnungen von Polen. „Haltet das deutsche Blut rein“ stand in Flugblättern, die auch in Lichtenrade verteilt wurden. Das Lager existierte von Anfang der 40iger Jahre, möglicherweise schon seit 1939. Die Belegungsstärke war mit 500 Personen geplant. Die höchste Angabe zur Belegung gab es im Oktober 1942 mit 771 Personen. Auch dieses Lager wurde von Bomben getroffen. Die Bombentreffer auf Lager dürften jedoch darauf zurückzuführen sein, dass sie in der Nähe der Bahnstrecke lagen. Die Lichtenrader Zeitung berichtet, dass am 1.3.1943 das Reichsbahnlager durch „Feindangriffe größtenteils vernichtet wurde.“ Nach der Zerstörung müssen an dieser Stelle auch Steinbaracken gestanden haben. Welche und wie viele Menschen dann dort untergebracht waren, ist nicht bekannt.
Auch wurde von einem Lager am Töpchiner Weg mit 8 bis 10 Baracken berichtet, wo nach Aussagen von Leuten offensichtlich Kriegsgefangene untergebracht waren, die auch teilweise in den Lichtenrader Gärten gearbeitet haben. Einige Steinbaracken stehen noch heute dort.
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Dann wurde der Ort besucht, an dem von 1943 bis 1945 ein Außenlager des KZ-Sachsenhausens existierte. Dieses Außenlager war auch Anstoß für die Lichtenrader Jugendlichen, sich intensiver mit der Aufarbeitung der Nazizeit in Lichtenrade zu beschäftigen. Am Mahnmal mit den Eisenbahnschienen am Bornhagenweg, errichtet zur 750 Jahrfeier von Berlin, berichtete Ruth Zantow, wie die Gruppe der evangelischen Jugend Fritz Reuter, einen ehemaligen Häftling des Lagers, getroffen hatte und viele weitere Unterlagen aus den verschiedensten Archiven gesichtet und ausgewertet hat. Ein Außenlager war ein Lager, wo Menschen waren, damit ihre Arbeitskraft ausgenutzt werden konnte. Im Vergleich zu einem KZ ging es hier den Menschen etwas „besser“. Die Belegungsstärke lag bei ungefähr 500 Personen. Die junge antifaschistische Gruppe hat dann in Lichtenrade über 100 Zeitzeugen befragt. Im Laufe der Jahre traf die Lichtenrader Geschichtswerkstatt noch weitere ehemalige, auch jüdische, Lagerinsassen. Die Wachmannschaft des Außenlagers bestand aus einer Person von der SS; ansonsten waren die Bewacher ehemalige Polizisten aus Berlin-Spandau. Diese Wachleute erfüllten manchmal auch kleine Wünsche der Gefangenen. In den Baracken im ehemaligen KZ-Außenlager fand nach dem Krieg Schulunterricht statt; auch wurden hier Flüchtlinge untergebracht.
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Die letzte Station war dann der evangelische Friedhof in der Paplitzer Straße. Hier ist es der Geschichtswerkstatt besonders wichtig, dass nicht nur den Kriegsgefallenen beim „knienden Soldaten“ gedacht wird, sondern auch allen Opfern der Nazi-Diktatur. Hier wurde, auch auf Initiative der Lichtenrader Geschichtswerkstatt, bei den Kriegsgräbern, überwiegend Opfer von Bombenangriffen und teilweise auch Zwangsarbeiter, ein Mahnmal im Jahr 1996 errichtet.
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Die Inschrift lautet: Gewidmet allen Opfern des Nationalsozialismus in und aus Berlin-Lichtenrade, denen, die bekannt geworden, sowie denen, die weiterhin unbekannt sind - der jüdischen Bevölkerung, Männern und Frauen aus vielen Nationen, die in Lichtenrader Lagern Zwangsarbeit leisten mussten, sowie den Kindern, politisch Verfolgten, Euthanasieopfern...
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Die Führungen der Geschichtswerkstatt Lichtenrade lassen die Vergangenheit nicht vergessen und zeigen „beeindruckend“ das dunkle Kapitel (auch) in Lichtenrade. Eine sehr wichtige Arbeit im und für den Ortsteil Lichtenrade, eine wichtige Arbeit für die Bürger und für die Opfer und besonders für junge Menschen! Es werden im Jahr ungefähr drei bis vier Führungen mit teilweise unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt. Der Gruppe geht es dabei nicht darum, nur zur historisieren, sondern aufzuzeigen, welche Gefahren von Leuten, wie zum Beispiel den Neonazis, noch heute ausgehen kann.

Thomas Moser (auch Fotos) – BerLi-Press (www.berli-press.de) für www.lichtenrade-berlin.de

Quelle Postkarte: Mit freundlicher Genehmigung der Lichtenrader Geschichtswerkstatt

Weitere Informationen zur Geschichtswerkstatt Lichtenrade

Die Projektgruppe Geschichtswerkstatt Lichtenrade arbeitet im Rahmen der Berliner Geschichtswerkstatt e.V.. Das Buch der Projektgruppe „Direkt vor der Haustür - Berlin-Lichtenrade im Nationalsozialismus“ ist 1990 im Steidl-Verlag (Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste9 erschienen und leider vergriffen. Eine zweite, veränderte und erweiterte Auflage befindet sich in Vorbereitung. Ein Erscheinungstermin ist jedoch noch nicht absehbar.

Weitere Informationen: www.berliner-geschichtswerkstatt.de

Tel.: 030-215 44 50

Mail-Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Tipp: Es finden von der Berliner Geschichtswerkstatt noch bis September historische Stadtrundfahrten mit dem Schiff zu verschiedenen Themen statt.

Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft

BLZ 100 205 00 Kto-Nr.  3037002

Stichwort "Projektgruppe Lichtenrade"


 

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