Lichtenrade um 1960

Geboren in Berlin, 1956, vom ersten Tag an verbrachte ich mein Leben in Lichtenrade. Das ist der südlichste Ortsteil von Berlin.
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„Das liegt im Westteil von Berlin!“, wie ich früher immer den „Wessi“-Besucher erklären musste. Solche Fragen nach Ost - und West-Berlin erzeugten immer einiges Unverständnis bei mir.

Mein Kiez „Lichtenrade“, damals noch ein Ort, der die Bezeichnung „Dorf“ verdiente. Heute leben in Lichtenrade zwar über 50.000 Einwohner, aber Dorf ist der Kiez in mancher Hinsicht noch geblieben. Heute gibt es einige große Neubaugebiete, kaum ein Fleck Land ist frei. Lichtenrade hat aber auch große Flächen mit kleinen Familienhäuschen und auch Wald. Eine bunte Mischung.
Das kulturelle und kulinarische Angebot hält sich sehr in Grenzen. In Lichtenrade fährt man durchaus noch in die Stadt, wenn man den Wittenbergplatz und die Joachimsthaler Straße meint.

Diese Einstellung hat sich nicht groß verändert. Aber so vor ca. 40 oder 50 Jahren sah die Welt hier schon noch anders aus. Die Straßenbahn verkehrte den Lichtenrader Damm lang bis zur Salvator-Kirche. Es gab den Schnellbus zum Zoo „A S2“. Die Busse hatten hinten noch keine zu verschließenden Türen und die Busschaffner hoben die Reste der Fahrscheinblöcke für Kinder auf, die gerne Bus spielten. Die erste Reihe im oberen Deck des Busses gehörte mir als „Busfahrer“ sowieso. Störungen, wie Fragen der Eltern, waren nicht erlaubt. Wer darf denn schon einen Busfahrer während der Fahrt ansprechen. Da hörte man doch auch in Wirklichkeit von Berliner Busfahrern mit der angeborenen Berliner Freundlichkeit (Schnauze mit Herz) gleich: „Könnse etwa nich lesen...?“

Hier kam auch noch der Mann, der mit dem 3-Rad-Goliath-Auto „Brennholz für Kartoffelschalen“ anpries. Das Brennholz wurde aber auch immer weniger mit der Zeit, obwohl auch wir Kinder fleißig Kartoffeln geschält haben. Dafür kippte das Auto eines Tags beim abbiegen um, ein wie man heute sagen würde „Event“ in meinem Leben. Apropos Kartoffeln: Besonders lecker waren diese Erdäpfel natürlich dann, wenn wir beim Bauern geholfen haben Kartoffeln zu lesen und als Lohn auch einen Sack von dieser leckeren Frucht abbekamen.

Wir, dass sind übrigens Vater, Mutter, 2 ältere Brüder und ich als Nesthäkchen, der es trotz der Vermutungen der Brüder so einfach nun auch nicht hatte (...hier mag der Leser, je nach Stellung in der Familie, seine eigenen Erlebnisse Revue passieren lassen).

Meine wirkliche Erinnerung beginnt aber so ungefähr im Jahr 1960, darauf richten sich daher auch meine Schilderungen. Den Mauerbau im August 1961 habe ich schon als etwas „Besonderes“ wahrgenommen, zumal die Großen auch recht erschreckt waren. Wie es vor dem Mauerbau um Berlin herum und an der „Grenze“ aussah, entzieht sich meinem Erinnerungs vermögen.

Ich bin mit der Mauer in Lichtenrade groß geworden, zumal der Ortsteil -so wie eine Art Halbinsel- etliche Kilometer direkt an der Mauer lag. Als ich als Kind dann mit dem Fahrrad, was zumindest früher ein notwendiges Fortbewegungsmittel in Lichtenrade war, mobil wurde, habe ich auch die Grenze oft vor Augen gehabt. Sicherlich war immer ein Magengrummeln damit verbunden, wenn ich auf den kleinen Holz-Aussichtstürmen den Grenzern fast Auge um Auge gegenüberstand. Aber ich lebte damit, ohne mich eingeschränkt zu sehen.

Erst mit der Grenzöffnung 1989 habe ich erfühlt, wie wunderbar die Welt und auch Lichtenrade ohne diese künstliche Menschentrennung sein konnte. Die Mauer hatte ja auch einen Vorteil als Kind: Der Kiez war klar begrenzt. Es ging dann gar nicht mehr weiter.

Vor der Grenze auf der Westseite waren extra Wege auch durch die Wälder angelegt, die die Alliierten, was bei uns die Amerikaner geworden sind (nachdem Teile des Ortsteils an sich die Russen haben wollten...) als Patrouillestrecken nutzten. Im Jeep fuhren dann meisten 3 Soldaten, der 3. Mann war im hinteren Teil und hatte das festgeschraubte Maschinengewehr im Anschlag. Meistens winkten sie uns Kindern nett zu.

Als Kind war das mit den Waffen schon toll anzusehen, zumal der kleine Junge Waffen schon spannend fand...und dies wohl besonders, weil der Vater sie wegen der eigenen Kriegserlebnisse gar nicht mochte (dies durchlebten meine Jungs dann später ähnlich; wie sich doch vieles wiederholt...). Auf der Ostseite war auch ein fester Weg hinter dem Todesstreifen für die Fahrzeuge der sogenannten Grenzorgane angelegt. Dieser Weg wird heute besonders gerne von Radfahrern benutzt.

Um auf die Amerikaner zurückzukommen: „die waren halt gut“, das wussten wir...oder besser gesagt, dass hat man uns allerorts vermittelt. Der Rundfunksender RIAS war natürlich eine beliebte Quelle, zumal ja auch hier die besten Sendungen kamen: „Schlager der Woche“ mit Lord Knud, der Kassettenrekorder musste immer startklar sein, Ewald Wenck und seine „Geschichten aus dem alten Berlin“ und die damals noch Lokalgröße Hans Rosenthal. „Allein gegen Alle“ mit dem „Zwerg Allwissend“ war hier der große Renner. Frisch gebadet (als „Klennster“ durfte ich als erster ins Badewasser...) am Samstag im Bett liegen und Radio hören, das war die Krönung einer anstrengenden Kinderwoche!

Autos gab es noch nicht so viele, in Lichtenrade schon gar nicht. Ich als Kind habe Autos noch als etwas besonderes angesehen. Wir hatten ja auch kein eigenes Auto. Die Straßen waren fast leer, sodass man jedenfalls auf den kleinen Straßen in Lichtenrade ohne Gefahr spielen konnte.
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Auch in unserer gerade neugebauten Siedlung nördlich der jetzigen Barnetstraße standen kaum Autos. Nur der Haus- und Hofzahnarzt hatte dann doch sehr schnell ein Auto. Der hat noch Parkplätze in Hülle und Fülle gefunden. Selbst das „Autos zählen“ war schon sehr langweilig, weil für eine Stunde oft noch die Hände ausgereicht haben. So konnte man sich auch an die Marken sich heranwagen: Taunus 17 M, Opel Kapitän, VW-Käfer natürlich, Isetta, Fiat 500, Opel Kadett noch in der etwas eckigen Variante...

Der Weg zur Bahnhofstraße und zur Kirche war auch immer ein halber Landausflug. An der Steinstraße stand noch kein Hochhaus. Nur Felder, soweit das Auge reichte. So kam mir der Weg als Kind besonders lang vor. Besonders natürlich dann, wenn ich nicht mit dem Fahrrad fuhr.

Auch der Weg zu meiner Schule war immer mit Abenteuern verbunden. Ich musste mit der S-Bahn nach Marienfelde fahren. Dies, obwohl man S-Bahn zu dieser Zeit nicht fuhr. Damit unterstützte man doch den Klassenfeind im Osten. Für uns Kinder spielte das aber alles keine Rolle. So war der lange Weg zum S-Bahnhof Buckower Chaussee (den S-Bahnhof Schichauweg gab es noch nicht) jedes Mal ein Erlebnis. Unheimlich war es schon, als wir an den langen Kohle-Bergen vorbeilaufen mussten. Manchmal kamen da ja auch Güterzüge. Sonst bot sich hier der beste Ort zum Verstecken und um die ersten Zigaretten zu paffen.

So verbrachte ich eine unbeschwerte Kindheit im ländlichen Lichtenrade...

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