Die Zeit von 1935 bis 1950

Wer damals Lichtenrade vom Funkturm oder von der Siegessäule aus suchte, der suchte einfach die Schornsteine der Mälzerei, die waren wegen der Windleitbleche charakteristisch.Außerdem waren sie neben den Kirchtürmen das Höchste, was weit und breit zu finden war.

Nach Lichtenrade fuhr man mit der 99. Die 99 bestand aus einem Triebwagen und meistens zwei Anhängern. Der Triebwagen hatte vorn und hinten eine offene Plattform, über die man ein- und ausstieg. Der Fahrer musste während der ganzen Fahrt stehen. Im Winter hatte er einen dicken Wollmantel an und steckte bis zu den Waden in klotzigen, filzgefütterten Stiefeln.

Musste eine Weiche gestellt werden, so öffnete er ein Schiebefenster vorn rechts, ergriff eine lange Eise nstange, die außen am Wagen hing und sich unten zuspitzte wie ein riesiger Schraubendreher. Damit stieß er in die Weiche und hebelte ihre Zunge in die richtige Stellung.Der Scheibenwischer musste mit der Hand betätigt werden, weswegen der Fahrer üblicherweise den Hebel dafür nur einmal hin und her bewegte.
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In den Anhängern durfte geraucht werden. Der Einstieg ging ebenso wie beim Triebwagen vonstatten: Über zwei hohe Stufen auf die offene Plattform, von dort durch eine Schiebetür in die Kabine. In den Anhängern war sie schrecklich verqualmt. Trotzdem: Machte ein Fahrgast die Tür im Winter nicht ganz zu, hörte er sofort ein im Militärston herausgebelltes "Tür zu!!". Aber auch im Sommer war der Ton rau: Blieben die Türen während der Fahrt vorn
und hinten offen, rief auch in der größten Hitze immer jemand: "Es zieht!!"

Von 1940-49 war Strom knapp. Die Bahnen durften nicht geheizt werden. Die Scheiben der Anhänger waren im Winter oft von innen mit dicken Eisblumen beschlagen, je mehr Fahrgäste, desto dicker. Nur der Zugwagen war wärmer, er wurde mit dem Strom geheizt, der aus der Bremsenergie gewonnen wurde.

In jedem Wagen lief ein Schaffner herum. Er lochte jeden Fahrschein, bevor er ihn dem Fahrgast gab, und zwar je ein Loch für den Monat, den Tag, die Stunde und die Fahrtrichtung,dazu zwei Löcher für die Liniennummer, hier also 90 und 9. Das kostete nicht nur viel Zeit, sondern es war in einer rumpelnden Bahn schwer, das kleine Viereck mit der Knipszange richtig zu treffen. Viele Schaffner knipsten die feststehenden Daten schon an der Endstation auf Vorrat.Schätzen Sie den Vorrat zu groß ein, gab es Ärger bei der Abrechnung.

Schaffner und Fahrer verständigten sich mit Klingelzeichen. Dafür liefen zwei Lederriemen über den Köpfen durch jeden Wagen. Wenn der Schaffner daran zog, läutete eine Klingel auf dem Dach des Wagens, welche von zweien, richtete sich nach dem Riemen.

Der hinterste Schaffner läutete zuerst, nämlich wenn mit Ein- und Ausstieg alles klar war. Dann folgte der Mittelwagen und zum Schluss der Zugwagen. Das war das Abfahrtszeichen für den Fahrer. Zweimal Klingeln machte das „Fertig“-Zeichen wieder rückgängig. Dreimal Klingeln bedeutete Gefahr und kam außerordentlich selten vor.

Ab 1936 gab es Erleichterungen. Zunächst bekamen die Schaffner einen Kleingeldspender zum Umhängen, der das Einordnen wie auch das Herausgeben der Münzen sehr erleichterte. Später änderte man die Fahrscheine vom Lochen auf das Stempeln. Aber auch Fahrgäste und Fahrer hatten es besser: Die "Zwillingswagen" kamen. Sie hatten einen Mitteleinstieg, der während der Fahrt immer geschlossen blieb. Der Fahrer hatte einen Sitzplatz. Zwei solcher Wagen waren gewöhnlich zusammengekoppelt, bei Bedarf hing man noch einen der alten Anhänger hinten an.

Die Bahn fuhr auf dem Mittelstreifen des heutigen Mariendorfer/ Lichtenrader Damms. Auf der Außenseite der beiden Baumreihen waren die Radfahrwege. Endstation war vor der katholischen Kirche am Bahnhof Lichtenrade, dort, wo jetzt Parkplätze sind. Manche Wagen quietschten in der Wendeschleife so laut, dass es noch in der Großziethener Straße zu hören war. (Die Kurve bei Reichelt war auch so eine Quietschkurve.)

Den Lichtenrader Damm (damals Berliner Straße) gab es ab Lessingstraße erst seit 1938, vorher lief der ganze Verkehr außer der Straßen bahn durch Alt-Lichtenrade (damals Dorfstraße). An Sonntagabenden im Sommer stauten sich die Autos vor der Buckower/Marienfelder Chaussee zurück bis zur Potsdamer Straße, manchmal sogar bis zum Dorfteich.
Ja, schon vor dem Krieg gab es Staus in Lichtenrade! Radfahrer, die an der heutigen Einmündung von Alt-Lichtenrade in den Lichtenrader Damm in Stadtrichtung auf den Radfahrweg am Mittelstreifen über die Fahrbahn mussten, lebten gefährlich.

Kurz vor dem Krieg wurde die Umgehungsstraße fertig, aber nur mit einer Fahrbahn. Als im Krieg eine Bahnstrecke für Militär- und Rüstungstransporte nach Osten gebaut wurde, führte man den Lichtenrader Damm über diese Strecke hinweg, daher führt noch heute die Fahrbahn nach Süden aus scheinbar unerfindlichen Gründen über eine Steigung, die Fahrbahn nach Norden nicht. Als man die nämlich endlich baute, war die Umgehungsbahn schon abgebaut.

Heute kaum zu glauben, aber ab Adlermühle fuhr die 99 bis Goltzstraße fast ausschließlich durch Getreidefelder!

Lichtenrade war der Vorort der Kleingärtner. Am Wochenende kamen sie aus der Stadt und kümmerten sich um ihren Garten, im Sommer und Herbst ernteten sie Obst und Gemüse und fuhren dann, mit vollen Körben beladen, am Abend wieder zurück. Schon im Krieg wurden sie von den anderen Fahrgästen, die Obst nur knapp auf Lebensmittel karte zugeteilt bekamen, neidisch betrachtet.

Aber nach dem Krieg wurde alles viel dramatischer. Es gab ja viel weniger zu essen, und Obst bekamen fast nur kleine Kinder zugeteilt. Allen knurrte der Magen, alle waren mager. Und dann steigen da Leute mit Körben voller Kirschen, Mohrrüben, Johannisbeeren, mit Netzen voller Äpfel ein! Oft wurden wir angesprochen, ob wir nicht von dem „Überfluss“ etwas abgeben könnten.

Aber: Wir hatten selbst Verwandte, Freunde, Nachbarn. Wir hatten Handwerker nötig, die mit Geld und guten Worten selten zu locken waren. Wir brauchten Schuhsohlen und Fensterscheiben, Dichtungsringe und Schreibpapier, Sägeblätter und Fahrradschläuche. Wohl dem, der dafür etwas „kompensieren“ konnte (so hieß es nach dem Krieg). Im Laden gab’s das nicht.

In der übrigen Jahreszeit hatten auch die Lichtenrader Gartenbesitzer Hunger. Dort, wo der Gartenzaun kaputt war, hingen wir eine Schlaufe aus Stahldraht rein und hofften, dass sich über Nacht ein Wildkaninchen darin verfing. Nach der Getreideernte harkte der Bauer (z.B. an der Groß-Ziethener Straße zwischen Domstift und Stadtgrenze) noch zweimal das Feld durch, ehe er uns zum Ähren-Lesen rauf ließ. Die Ähren klopften wir mit der Hand aus und mahlten sie mühsam in der Kaffeemühle, ehe sie zu einer Suppe weichgekocht wurden. Mit den Kartoffeln war es ähnlich: Der Bauer ging zweimal mit der Maschine drüber, dann durften wir sehen, ob wir noch etwas mit der Hacke rausholen konnten.

Benzin gab es überhaupt nicht. Pfarrer Lütkehaus bekam als Direktor des Kinderkrankenhauses die Genehmigung, ein Auto mit Holzkohlenantrieb zu fahren. Holzkohlenantrieb?? Ja, da wurde in das Heck des Autos ein Metallbehälter eingebaut, der in Form und Größe etwa einem altertümlichen Warmwasserboiler entsprach. Er wurde vor der Fahrt mit Holzkohle gefüllt, die vor sich hin glühte und irgendein brennbares Gas erzeugte. Mit etwas Glück kam Lütkehaus auf 40 km/h, aber nie an der Steigung zwischen Potsdamer und Grimmstraße. Da musste er oben anhalten, hinten auf sein Auto klettern und mit einer Eisenstange in der Holzkohle herumrühren, damit die Brennstoff-Produktion wieder mitkam.

Das Kinderkrankenhaus wurde natürlich bevorzugt mit Kohle versorgt. Zu Weihnachten zweigte Pfarrer Lütkehaus davon regelmäßig ein bisschen Wärme für die Kirche ab, von der Christmesse um 6 Uhr bis zum Hochamt am späten Vormittag. So konnte der Kirchenchor seine Noten wenigstens ohne Handschuhe halten. Auch bekam die Orgel den nötigen Strom.

Die Teltowkanalbrücke am Ullsteinhaus war kurz vor Kriegsende gesprengt worden. Russische Pioniere hatten einen Ersatz am Hafen gebaut. Wer von der U-Bahn (ihre Endstation war der S-Bahnhof Tempelhof) weiter nach Lichtenrade wollte, musste an der Friedrich-Karl-Straße aussteigen, runter zum Hafen, über die Pontonbrücke, hinter dem Ullsteinhaus wieder hoch und an der Ullsteinstraße erneut in die Straßenbahn einsteigen.

Während der Blockade 1948-49 war Strom so knapp, dass die Alliierten befahlen, dass nach 18 Uhr keine Straßenbahn mehr abfahren dürfe. So mussten wir uns alle mit Arbeit, Besuchen und allem anderen darauf einstellen, noch vor 18 Uhr an der Endhaltestelle Ullsteinstraße zu sein. Nur Insider wussten, dass um 20.30 Uhr noch ein Einzelwagen für das Personal fuhr.

Mit der Zeit gab es immer mehr Insider. So habe ich als junger Mann manche Fahrt mindestens bis zur Dorfkirche Mariendorf auf dem Trittbrett zurückgelegt. Offiziell war das nicht erlaubt, aber welcher Schaffner wollte damals schon jemand aus einer vollen Bahn werfen!

Bernhard Iffländer
(Veröffentlichung nur mit Genehmigung des Autoren)
www.lichtenrade-berlin.de bedankt sich sehr für diesen anschaulichen Bericht!

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